Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist eine Abmahnung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips nur dann nicht erforderlich, wenn eine Verhaltensänderung des Arbeitnehmers auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten ist oder wenn es sich um eine derart schwerwiegende Pflichtverletzung handelt, dass ein weiteres Hinnehmen des Verhaltens für den Arbeitgeber offensichtlich – und auch für den Arbeitnehmer erkennbar – unzumutbar ist. Dies gilt ebenfalls bei Vertrauensbrüchen. Typische Beispiele hierfür sind strafbare Handlungen des Arbeitnehmers, die dem Arbeitgeber schaden.
In der Praxis ist es ratsam, auch in scheinbar klaren Fällen stets den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Es sollte geprüft werden, ob eine weniger drastische Maßnahme als die fristlose Kündigung möglich und zumutbar ist. Dies gilt besonders, wenn – wie im vom BAG entschiedenen Emmely-Fall – eine lange Betriebszugehörigkeit und ein bis zum Kündigungsereignis störungsfreies Vertrauensverhältnis bestehen.
Eine Abmahnung ist nicht erforderlich, wenn die Verletzung der Vertragspflichten derart schwerwiegend ist, dass der Arbeitnehmer keinesfalls erwarten konnte, dass der Arbeitgeber diese akzeptieren würde. Beispiele hierfür sind: das Androhen von Arbeitsunfähigkeit, körperliche oder sexuelle Übergriffe auf Kollegen oder Vorgesetzte, ernsthafte Drohungen gegen den Arbeitgeber oder Vorgesetzte, Annahme von Schmiergeldern, Straftaten gegen das Vermögen des Arbeitgebers wie Diebstahl (selbst bei geringwertigen Gegenständen), Unterschlagung, Betrug, Manipulation der Zeiterfassung, Vortäuschung von Arbeitsunfähigkeit oder Verstöße gegen das Wettbewerbsverbot.
Beispiel: Ein Arbeitnehmer beantragt Urlaub für den 10.04. Der Arbeitgeber lehnt die Urlaubsanfrage ab, da es sich um die Ferienzeit handelt und bereits viele Mitarbeiter im Urlaub sind. Daraufhin äußert der Arbeitnehmer: "Entweder bekomme ich Urlaub oder ich melde mich krank." Als der Arbeitnehmer am 10.4. tatsächlich nicht zur Arbeit erscheint, plant der Arbeitgeber, eine fristlose Kündigung auszusprechen.
In diesem Fall zeigt das Verhalten des Arbeitnehmers ein Muster, das grundsätzlich eine Kündigung, auch eine fristlose, rechtfertigen könnte. Das Vertrauen ist erheblich gestört. Allein die Ankündigung einer damals nicht vorhandenen Krankheit reicht aus, um einen fristlosen Kündigungsgrund "an sich" anzunehmen, selbst wenn der Arbeitnehmer später tatsächlich erkrankt. Mit dieser Aussage signalisiert der Arbeitnehmer, dass er, sollte der Arbeitgeber nicht nachgeben, eine Krankheit vortäuschen würde, um dem Arbeitgeber zu schaden (Entgeltfortzahlung). Dies könnte als Betrug gewertet werden.
Dabei spielt es keine Rolle, ob der Arbeitnehmer an diesem Tag später tatsächlich erkrankt. Entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, an dem er sich objektiv nicht krank fühlte, die Krankheit angedroht hat.
Eine vorherige Abmahnung wäre hingegen erforderlich, wenn der Arbeitnehmer mit nachvollziehbaren Gründen davon ausgehen konnte, dass sein Verhalten nicht vertragswidrig sei oder vom Arbeitgeber nicht als schwerwiegendes Fehlverhalten angesehen werde.
Anders könnte die Situation zu bewerten sein, wenn der Arbeitnehmer bei der Ankündigung der Krankheit tatsächlich bereits krank war. Auch dann könnte es dem Arbeitnehmer jedoch aufgrund des Gebots der Rücksichtnahme untersagt sein, die Krankheit und das daraus resultierende Recht, der Arbeit fernzubleiben, als "Druckmittel" gegenüber dem Arbeitgeber zu verwenden.